Die Sprach- und Grammatiktheorie des 20. Jahrhunderts versteht Mehrsprachigkeit im Wesentlichen als Sonderfall, den sie (wenn überhaupt) im Kontrast zur als prototypisch verstandenen Einsprachigkeit behandelt. Entsprechend beschreibt sie Sprachsysteme als monolingual, weitgehend variationsfrei und statisch. Im Gegensatz dazu zeigt die kontaktlinguistische Forschung, dass Mehrsprachigkeit, gemessen an einem historischen und globalen Maßstab, keine Ausnahme ist, sondern die Regel. Sprachkontakt ist der Normalzustand von Sprachen, Sprechergruppen und individuellen Sprechern, Einsprachigkeit im engeren Sinne (Monolektalität) ist dagegen inexistent: Jeder ist in irgendeiner Weise mehrsprachig oder multilektal, ob er nun mehrere Standardsprachen beherrscht oder verschiedene Varietäten und Dialekte einer Sprache, ob mehr oder weniger produktiv oder rein rezeptiv – jeder Sprecher greift also kommunikativ adäquat auf vielfältige sprachliche Ressourcen zurück.
Vor diesem Hintergrund wird in diesem Projekt ein im Rahmen der Konstruktionsgrammatik theoretisch fundiertes, soziokognitiv realistisches Modell entwickelt (Diasystematische Konstruktionsgrammatik, DCxG), mit dem Phänomene von Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt erfassbar werden. Die DCxG versteht die Community als primären Träger von Grammatik, nicht die Einzelsprache. Ob und in welchem Maß sprachliche Elemente nur einer bestimmten Sprache/Varietät zugeordnet oder von mehreren Sprachen/Varietäten geteilt werden, ist in diesem Modell keine Frage der Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen Sprachsystem, sondern wird auf der Ebene der einzelnen Konstruktionen bestimmt, die miteinander in einem sprachübergreifenden Konstruktionsnetzwerk verbunden sind. Dabei geht DCxG in ihren theoretischen Grundannahmen nicht über das hinaus, worüber in gebrauchsbasierter Konstruktionsgrammatik ohnehin Konsens herrscht. Insbesondere gilt: (a) Alles Wissen über Sprachstrukturen ist im Format von Konstruktionen verankert, (b) alle sprachlichen Form-Funktions-Paare sind Konstruktionen, und (c) die Organisation sprachlichen Wissens folgt allgemeinen kognitiven Prinzipien.
Seit einigen Jahren wird die DCxG auch international rezipiert und auf verschiedene Sprachenkonstellationen angewandt.