Heute geht es gar nicht um Wörter – beziehungsweise gleich um sehr viele. Denn die skandinavischen Sprachen haben nicht nur einzelne Wörter aus dem Niederdeutschen übernommen, sondern auch eine ganze Reihe Wortbildungselemente, nämlich Präfixe und Suffixe. Man kann sich vorstellen, dass diese Wortbildungselemente zunächst in konkreten Wörtern in die skandinavischen Sprachen gelangt sind, dass sie sich dann aber verselbständigt haben und nun auch ohne ein niederdeutsches „Restwort“ vorkommen.
Ein solcher Fall ist das Präfix be- (im Mittelniederdeutschen und bis heute be-). Dieses Element findet sich in Lehnwörtern aus dem Niederdeutschen, zum Beispiel in dänischem/norwegischem beklage und schwedischem beklaga (bedauern), die Übernahmen des mittelniederdeutschen beklāgen darstellen (heute beklagen). An diesem Beispiel kann man auch gut eine der wichtigsten Funktionen von be- erkennen: Verben mit diesem Präfix haben immer ein direktes Objekt, während man bei demselben Verb ohne Präfix zum Beispiel zu Präpositionen greifen muss, wenn man das gleiche ausdrücken will. Eine Sache beklagen ist (mehr oder weniger) dasselbe wie über eine Sache klagen. So funktioniert be- auch im Skandinavischen, und zwar unabhängig von niederdeutschen „Restwörtern“. Zum Beispiel ist die Grundbedeutung von dänischem/norwegischem/schwedischem bebo dieselbe wie die von bo, nämlich wohnen, aber während man in einem Haus wohnt (man bor i ett hus), bewohnt man einfach das Haus (man bebor huset).
Ein zweiter Fall ist das Suffix, das im Dänischen -hed heißt, auf Färöisch fär. -heit, auf Norwegisch -het/-heit und auf Schwedisch -het. Dieses Element, das aus dem Niederdeutschen entlehnt worden ist (mnd. -hēt/-heit, heute -heit) hat vor allem die Funktion, aus Adjektiven Substantive zu machen, wie zum Beispiel in berømthed (Berühmtheit), hardhet (Härte) oder tuffhet (Toughness). Hier erkennt man auch gleich wieder, dass dieses Suffix zwar zusammen mit niederdeutschen Adjektiven vorkommt (dän. berømt < mnd. berȫmet, heute beröhmt), aber auch mit einheimischem Material (norw. hard) und mit Lehnwörtern aus ganz anderen Sprachen (schw. tuff < engl. tough).
Ein interessanter dritter Fall ist ein Suffix, das vor allem (traditionell) weibliche Berufsbezeichnungen bildet, so wie im dänischen syerske (Näherin), im norwegischen husholderske/hushalderske (Haushälterin) und im schwedischen kokerska (Köchin). Dieses Element hat seinen Ursprung im mittelniederdeutschen -sche (heute -sch). Auf Niederdeutsch würde man heute ebenso immer noch sagen, eine Frau sei Neihersch (Näherin), Hushöllersch (Haushälterin) oder Kööksch (Köchin) – oder natürlich auch Doktersch (Ärztin) oder Perfessersch (Professorin).